Plinius der Ältere (23/24 n. Chr. bis 79 n. Chr.) berichtet in seiner Historia Naturalis über den künstlerischen Wettstreit von Zeuxis und Parrhasius. Während es Zeuxis gelang, Weintrauben so naturgetreu zu malen, dass Vögel an ihnen zu picken versuchten, stellte Parrhasius ein Gemälde her, das scheinbar von einem Vorhang verdeckt wurde. Die Bitte von Zeuxis, diesen beiseite zu schieben, machte Parrhasius zum Gewinner des Wettstreits, denn der Vorhang war ebenfalls gemalt.
Die Frage nach der perfekten Augentäuschung steht in der zeitgenössischen Kunst nicht mehr im Vordergrund, wird die naturgetreue Wiedergabe der Außenwelt inzwischen meist von technischen Medien übernommen. Wichtiger ist hingegen die Frage nach der Wahrnehmung visueller Eindrücke an sich geworden, zum einen weil die Anzahl medialer Bilder den Alltag in einer kaum fassbaren Weise bestimmt. Zum anderen trifft jedes vom Menschen neu erfasste Bild auf die im Gehirn gespeicherte Erinnerung vorher gesehener Bilder und damit wird die Wahrnehmung stets von individuellen Erfahrungen beeinflußt.
Bert Haffke und Ralph Kull thematisieren die Frage nach der Wahrnehmung von Kunst, gerade auch im Kontext bereits tradierter Bildgestaltungen und Symbole, in ihren Werken. Beide Künstler arbeiten unabhängig voneinander, treffen sich in unregelmäßigen Abständen aber zu gemeinsamen Ausstellungsprojekten, nicht um einen Wettstreit miteinander zu führen, sondern um mit ihren Arbeiten in einen Dialog zu treten. Dabei wird die Bedeutung von Form und Farbe, Motiv und Material für die Bildwirkung untersucht sowie der Ausstellungsraum einbezogen, für den konkrete Werke geschaffen werden.
In den auf dem ersten Blick minimalistisch wirkenden Arbeiten von Bert Haffke bilden die Grundformen, Kreis, Quadrat, Kreuz oder Rechteck, die Basis. Sie werden mit Hilfe verschiedener Materialien definiert, wobei das Verhältnis vom Rahmen zur Fläche von besonderer Bedeutung ist. Eine mit schwarzer Ölfarbe bemalte Kreisform hängt neben einer Scheibe aus Acrylglas, deren innerer Durchmesser der schwarzen Scheibe entspricht und an deren innerem Rand schwarze Farbspuren zu finden sind. Das Werk von 2021, das keinen Titel trägt, stellt die Frage nach der Herstellung und der Definition des Bildgegenstandes. Verleiht die schwarze Ölfarbe dem Kreis seinen Kunstwert oder ist die leere Fläche, die das Plexiglas rahmt als Negativform nicht ebenso bedeutend als definierte Form? Sind die schwarzen Farbreste auf dem Plexiglas wirklich Arbeitsspuren oder nicht vielmehr originäre künstlerische Setzungen?
Im Werk „What I want you to see“, 2022, bilden zwei identische Quadrate ein Rechteck in Hochformat. Während das obere Quadrat durch einen Glasrahmen zum Bild wird, ist das untere Quadrat ein mit schwarzer Ölfarbe bedecktes Bild. Dass der Künstler mit seinem Werk dem Betrachtenden etwas vorgibt, mag einleuchten, dass er jedoch auch mit einer Leerstelle das Sehen steuert und die Wahrnehmung verändert, erscheint zunächst widersinnig. Doch gerade im Furor täglicher Bildfluten kommt dem Bild ohne Motiv eine Bedeutung zu. Bereits 1927 gestaltete El Lissitzky mit dem „Kabinett der Abstrakten“ einen Ausstellungsraum, dessen Rekonstruktion sich heute im Sprengel Museum Hannover befindet, bei dem mittels beweglicher schwarzer Schiebeelemente Bilder verdeckt oder sichtbar gemacht werden konnten. Dadurch verändern sich die Blickbeziehungen zwischen den Werken, die relativ eng über und nebeneinander hängen. Gleichzeitig erhält die schwarze Fläche als unterbrechendes Element und Leerstelle eine Bedeutung im Wahrnehmungsprozess.
Bert Haffke bevorzugt in seinen Arbeiten die Farben Schwarz und Weiß, denn sie lenken die Konzentration auf die Form. Dies haben bereits die Konstruktivisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannt, vor allem Kasimir Malewitsch, dessen schwarze Formen jedoch stets als sichtbar gemalt auf einer Leinwand erscheinen. Bert Haffke verweigert diese malerische Wirkung, in dem er Materialien verwendet, die seine Werke zu Objekten macht, die direkt auf der Wand angebracht sind. Die weiße Kreuzform, die das Werk o. T., 2021, bildet, besteht aus Silikon, einer plastischen Masse mit haptischem Charakter, deren Ränder sich nach vorne neigen, so dass ein Schattenwurf entsteht. Statt einer gemalten Form ist das Gegenüber ein konkretes Objekt.
Glas als durchsichtiges und farbloses Material stellt eine besondere Herausforderung für die Wahrnehmung dar. Im Werk o.T. (verrückt), 2021, hängen ein Glasreif und ein Aluminiumreif nicht ganz deckungsgleich übereinander, wobei sie eine leere Kreisform in ihrer Mitte umschließen. Die in Klammer gesetzte Bezeichnung oder Beschreibung ist zweideutig, kann sie sich doch konkret auf die geringe Abweichung der beiden Ringelemente beziehen, aber auch als Kommentar zum Werk gemeint sein. Dieses könnte man als „verrückt“ bezeichnen, da ihm scheinbar ein Motiv fehlt. Die Erwartungen, die jeweils an ein Kunstwerk gestellt werden, spielen dabei eine entscheidende Rolle.
Bei den Werken von Bert Haffke stehen Umrisslinie und Fläche, Vorder- und Hintergrund, Durchsichtigkeit und Farbe nicht im Dienst eines Motivs, das dargestellt werden soll, sondern sie sind selbst Bildgegenstand. Eine konkrete Form entsteht, die vorrangig keinen Verweischarakter oder eine symbolische Bedeutung enthält, sondern die selbst Anlaß zum Sehen ist. Sie bildet die Voraussetzung, das Konkrete und damit das Sehen selbst bewußt wahrzunehmen.
Dass dieses bewußte Sehen kein einfacher Vorgang ist, obwohl in den Arbeiten des Künstlers alles offensichtlich erscheint, wird am Werk o. T. (irish cross), 2021, noch einmal deutlich. Eine runde Plexiglasscheibe mit vier Neonwinkeln bildet das Werk, das wie abgestellt an der Wand lehnt. Selbst die Stromkabel zwischen den Leuchtstoffröhren bleiben sichtbar. Doch gerade deshalb wird das Sehen hier zur Herausforderung, denn weißes Licht vor einer weißen Wand, kombiniert mit einer durchsichtigen Scheibe machen es schwer, Zusammenhänge zu erkennen. Der im Titel in Klammern gesetzte Hinweis auf das „Irische Kreuz“ hilft nur den Betrachtenden, die zu dieser Information ein Bild abgespeichert haben, dass sie mit den sichtbaren Teilen des Kunstwerks abgleichen können.
Das Sichtbare ist sichtbar – dem Wahrgenommenen aber jeweils eine Bedeutung zu verleihen, ist ein Prozess. Im Alltag vollzieht sich dieser meist unbewußt und daher oft unkritisch, kommt er aufgrund einer künstlerischen Setzung aber ins Stocken, müssen Erkenntnisse beim Betrachten neu entwickelt werden.
In der gemeinsamen Arbeit mit dem Titel temporärer Horizont auf der Bühne der Städtischen Galerie Lehrte treten die Fragestellungen und die Ausdrucksmedien beider Künstler in einen direkten Dialog. Das Gemälde von Ralph Kull nimmt erneut das Thema des Vorhangs auf, der als realer schwarzer Bühnenvorhang dort hängt und nun ein zweites Mal als gemaltes Bild erscheint. Ein Klebestreifen unterbricht auch hier die Bildfläche und entwickelt auf dem Schwarz des Gemäldes und Vorhangs eine graphische Wirkung, die das Kontinuum der Wahrnehmung unterbricht. Hinzu tritt der rote Farbguss auf dem schwarzen Bühnenboden und der kleine Mondglobus, der auf der Bühne wie in einem Nachthimmel leuchtet.
Die unterschiedlichen Medien von Malerei, Material, Objekt und Licht treten im Kontext des konkreten Raums auf, ohne eine direkte physische Verbindung einzugehen. Sie bleiben unabhängig, erzeugen aber einen gemeinsamen visuellen Eindruck. So einfach die Komponenten schwarz, rot und weiß sowie Linie, Fläche und Körper zunächst erscheinen, sie bilden ein komplexes Werk, in dem verschiedene Wahrnehmungsebenen angesprochen, aber auch gebrochen werden. Zum einen wird die Imitation der Wirklichkeit im Gemälde par excellence erfüllt, jedoch verbirgt der ‚Vorhang‘ in diesem Werk nichts als einen Vorhang. Zum anderen werden konstruktivistische Stilelemente in einer räumlichen Arbeit neu eingesetzt.
Das Schaffen von Verbindungen zwischen den Elementen ist die Arbeit, die beim Betrachten geleistet werden muß. Dabei bleibt es gerade dem Kunstwerk vorbehalten, keinen eindeutigen Zusammenhang vorzugeben, sondern konkrete Erfahrungen als offenen Prozess ins Bewußtsein zu rücken. Diese ‚temporären Horizonte‘, die in den Werken von Bert Haffke und Ralph Kull eröffnet werden, richten den Blick auf eine Neue Welt, deren Entdeckung in der Betrachtung selbst liegt und weniger in die Ferne, denn in die Tiefe des Erkennens führt.
Julienne Franke
Städtische Galerie Lehrte
Text zur Publikation der Ausstellung, Jan 2023